Schaufenster eines Vierteljahrhunderts/ von Irina Wolf/ Aurora Magazin 2.12.2015

     Sein Aussehen ähnelt dem einer karikierten Figur. Er trägt eine komische Tiroler Tracht, dazu eine lächerliche Perücke und einen ebenso albernen Schnurrbart. Von einer gespentischen Gruppe wird er stark umworben. "Der Tod", eine mit einer Sense ausgestattete, in Schwarz gekleidete Dame, ihr Sekretär und dazu noch eine "Henne", die auf belustigende Weise gluckt, kreisen musizierend um den jungen Adolf Hitler. Mit originellen Mitteln wie diesen hat der 60-jährige Regisseur Alexandru Dabija George Taboris Mein Kampf in Szene gesetzt und sorgte so für einen erheiternden Auftakt der 25. Auflage des rumänischen Nationaltheaterfestivals. Mit über 40 einheimischen Inszenierungen und drei ausländischen Produktionen sprengte die künstlerische Leiterin Marina Constantinescu alle Rekorde.

Auch der Zuschauerandrang zur Eröffnungspremiere war rekordverdächtig. Über den Treppenaufstieg zum hell erleuchteten Foyer des Nationaltheaters "Ion Luca Caragiale" in Bukarest, das von 2010 bis 2014 einer Generalsanierung unterzogen wurde, war ein roter Teppich ausgerollt. Mit sieben Sälen und einer Gesamtkapazität von 2500 Plätzen - der Große Saal allein kann bis zu 900 Personen Platz bieten - ist das Gebäude im Zentrum der rumänischen Hauptstadt eines der größten Bauwerke Europas. Zusammen mit dem Verband rumänischer Theater ist es seit 1990 Produzent des Nationaltheaterfestivals.

Konflikte jeglicher Art im Mittelpunkt

     Zum Hauptthema der diesjährigen Jubiläumsauflage, die vom 23. Oktober bis 1. November stattfand, geriet das aktuelle Themenfeld "Konflikt". Ganz im Zeichen einer gewaltsamen Auseinandersetzung standen demnach auch zwei aus dem Ausland eingeladene Monumentalproduktionen: Front in der Regie von Luk Perceval vom Thalia Theater Hamburg und Krieg in der Regie von Vladimir Pankov, eine Koproduktion des Internationalen Tschechow Theaterfestivals, Edinburgh Internationalen Festivals und SounDrama Studios Moskau. Beide Aufführungen zeichneten sich durch eine rhythmische, polyphon organisierte Annäherung an das Thema des Jahrhundertjubiläums zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus. Es verbindet sie auch die Veranschaulichung verschiedener Perspektiven des katastrophalen Ereignisses des 20. Jahrhunderts: Figuren aus Erich Maria Remarques Roman "Im Westen nichts Neues", Henri Barbusses "Tagebuch einer Korporalschaft: Le Feu" und Charaktere weiterer literarischer und historischer Quellen begegnen sich in Percevals internationalem Abend. Hingegen verbindet Pankov Motive aus Homers "Ilias", Aufzeichnungen des Dichters, Reisenden und Soldaten Nikolai Gumilow mit Fragmenten des Romans "Heldentod" von Richard Aldington, um den Krieg, der Europa vollständig veränderte, wiederzugeben. Ein 19-köpfiges Ensemble liefert eine äußerst bemerkenswerte Leistung. Es wird perfekt rezitiert, auf allerlei Instrumenten gespielt und brillant gesungen. Mit einem Mix aus Rudern, Spindeln, Mänteln, Gasmasken, einem riesigen Kronleuchter und einem Klavier erstellt Pankov unvergessliche Bilder. Eine umwerfende Inszenierung!

Von den von Musik geprägten Theaterproduktionen sei hier noch Moliendo Café in der Regie des international bekannten Silviu Purcărete erwähnt. Das Improvisationstheater mit Schwerpunkt auf der verführerischen Aromawelt des Kaffees ist die allererste Koproduktion des Deutschen und Ungarischen Staatstheaters aus Temeswar. Von Letzterem wurde auch John Gays The Beggar's Opera gezeigt. Das inzwischen fast 300 Jahre alte Stück ist "eine ausgezeichnete Gesellschaftssatire, und ich denke dabei nicht an Serbien, Rumänien oder Ungarn, sondern an die gesamte Welt", sagt der serbische Regisseur Kokan Mladenovic, der Gays Oper mit den wunderbaren Schauspielern aus Temeswar eindrucksvoll in Szene gesetzt hat.

Hommage an die Poesie des Lebens im Doppelpack

   Höhepunkt dieser Festivalausgabe war die zeitgenössische Tanzvorstellung des "Aureliu Manea" Theaters aus der siebenbürgischen Stadt Turda. Die poetische Performance Vertij (Schwindel) erzählt die erschütternde Auseinandersetzung des 61-jährigen Künstlers Mihai Măniuţiu mit der Alzheimer-Krankheit seiner Mutter. Vava Ştefănescu und Andrea Gavriliu, zwei außergewöhnliche Choreografinnen und Tänzerinnen, tauchen in ein geheimnisvolles Universum ein. Ihre Körper ergänzen sich gegenseitig: einer jung und vor Energie sprühend, der andere gebrechlich, im Verlust seiner Selbstheit. Ihre durch Bewegungen dargestellten Empfindungen werden durch die Stimme aus dem Off des bekannten Schauspielers Marcel Iureş begleitet, der Măniuţius Gedichte rezitiert. Eine rührende Hommage des Sohnes an seine kranke Mutter.

Ebenfalls poetisch erwies sich die Hommage an Gellu Naum. Der preisgekrönte Lyriker, Dramatiker und Übersetzer gilt als einer der größten rumänischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und ist vor allem als Gründer des Surrealismus in Rumänien bekannt. Anlässlich der Hundertjahrfeier seiner Geburt wurden Naum 2015 eine Ausstellung und zwei weitere Ereignisse gewidmet: Apolodor, eine konzertante Aufführung von Ada Milea nach einem seiner populärsten Kinderbücher und N(AUM), eine Inszenierung inspiriert von seinen Gedichten. Mit wenigen Mitteln schafft die junge Regisseurin Mariana Cămărăşan das beeindruckende Bild einer Welt, die ständig zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt. Darin: Zwei Schauspielerinnen, die im Nebel dahinzugleiten scheinen. Durch den ständigen Einsatz von Metaphern ermöglichen sie einen direkteren Zugang zum Unterbewusstsein. Ein effektvoll eingesetztes Lichtdesign trägt zur Intensivierung der surrealen Atmosphäre bei. Am Ende bleibt der Wunsch, Gellu Naums Gedichte wieder einmal zu lesen.

   Ein spannendes und gleichzeitig maßgeschneidertes Rahmenprogramm ergänzte den hochwertigen Charakter des Festivals. Konferenzen, Debatten, siebzehn Buchpräsentationen und elf Ausstellungen im Gedenken an große rumänische Künstler - sie alle waren Teil des Nationaltheaterfestivals 2015 und unterstrichen sein Potenzial als Schaufenster eines Vierteljahrhunderts "freies Theater".

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